Treffpunkte mit unterschiedlicher Qualität

Volksstimme – Mi, 07. April 2021

Sissach/Liestal/Rheinfelden | Grundverschiedene Ausrichtungen der Begegnungszonen

svr. Im Jahr 2002 wurde die Begegnungszone als Verkehrsregime in der Strassenverkehrsgesetzgebung eingeführt. Mit dem Resultat, dass in vielen Agglomerationen solche Zonen entstanden, die zum Ziel hatten, für mehr Aufenthalts- und Lebensqualität zu sorgen. Entweder mit einer Koexistenz von motorisierten Fahrzeugen und Fussgängern wie in Sissach. Oder mit Zonen, in denen Fussgänger, allenfalls in Kombination mit dem Radverkehr, autofrei flanieren und einkaufen können, wie in Liestal und Rheinfelden.

Seit 30 Jahren prämiert der Verein Fussverkehr Schweiz städtische Projekte für eine fussgängerfreundliche Verkehrsgestaltung. Mit der 2017 zu einer Flaniermeile umgewandelten Rathausstrasse wurde Liestal nun mit dem Preis «Flâneur d’Or – Fussverkehrspreis Infrastruktur» ausgezeichnet.

Während sich Liestal über die wiedergewonnene Strahlkraft seines Städtchens freut, finden die kontroversen Diskussionen über die Ausrichtung des «Strichcodes» als Begegnungszone in Sissach kein Ende. Die diametral unterschiedlichen Strukturen der Begegnungszonen hat die «Volksstimme» zum Anlass genommen, in beiden Baselbieter Orten und zusätzlich in Rheinfelden am Ostersamstag einen Augenschein zu nehmen und bei Passanten den Puls zu fühlen, wie zufrieden sie mit dem Konzept «ihrer» Begegnungszone sind.


Rheinfelden: Nicht immer friedliche Koexistenz

Bei der Anfahrt verzweifelt nach einer Parkfläche Ausschau halten muss man in der Kleinstadt Rheinfelden nicht. Die klar signalisierten Verkehrsschilder führen den Autoverkehr direkt auf die grosszügig konzipierten sechs Parkplätze, die in einem Halbrund die Innenstadt mit dem Rhein in ihrem Rücken umschlingen. Sie bestechen durch die Nähe zur Innenstadt und ermöglichen mit der verkehrsfreien Marktgasse eine rege frequentierte Begegnungszone. Von sämtlichen Parkflächen aus sind es zu Fuss kaum mehr als zwei Minuten.

Die Marktgasse als wichtigste Einkaufsstrasse ist ausschliesslich dem nicht motorisierten Durchgangsverkehr vorbehalten, wobei Fahrradfahrer bei der Einfahrt in die Begegnungszone gebeten werden, im Schritttempo zu fahren. Diese Koexistenz, die durch fehlende Markierungen grundsätzlich auf gegenseitiger Nachsicht basiert, scheinen die Besucherinnen und Besucher mehrheitlich verinnerlicht zu haben. Trotzdem werden die Fussgänger nicht immer umsichtig und in einem angemessenen Tempo von den Radfahrern umkurvt, wie an diesem Samstag sichtbar wird und wie es auch in einer Befragung von Passanten zum Ausdruck kommt. Diese geben ihrerseits mit ihrer Körperhaltung unmissverständlich zu erkennen, wer in der barrierefreien Begegnungszone die Shopping-Hoheit hat, indem sie bei der Begegnung mit einem Fahrradfahrer stoisch an ihrer eingeschlagenen Gehlinie festhalten.

Die Zufahrt mit dem Auto bis vor die Ladentür ist aufgrund der Kleinstrukturiertheit der Läden und des Warensortiments nicht nötig. Bei der Befragung wurde die stimmige Atmosphäre mit den ehrwürdigen Fassaden in der einmalig konzipierten Begegnungszone ohne motorisierten Verkehr geschätzt. Ebenso die Erreichbarkeit.

Anita di Stefano:
«Ich finde die Begegnungszone schlicht einmalig. Sie passt gut in das Bild des alten Städtchens. Wenn man einander begegnen möchte, macht man einfach einen Spaziergang.»

René Glatt:
«Zwischen den ehrwürdigen Häusern zu laufen gibt mir immer ein heimeliges Gefühl. Das Warenangebot ist prima, auch die Zufahrt ist gut. Nur die Radfahrer nehmen zu wenig Rücksicht.»


Liestal: Urbane Atmosphäre mit Begegnungspotenzial

Klassische Fussgängerzonen mit einem hohen Anteil an motorisiertem Verkehr sind grundsätzlich problematisch. Das hat Liestal realisiert und mit der Umwandlung der Rathausstrasse in eine Begegnungszone, die nun wirklich ihren Namen verdient, für die Fussgänger ein klares Zeichen gesetzt. Für den motorisierten Verkehr besteht ein Fahrverbot, Radfahren ist erlaubt. Bei der Einfahrt in das Zentrum wird die Zufahrt zu den Parkflächen und Parkhäusern klar signalisiert. Wer ganz nahe an der Rathausstrasse parkieren möchte, tut dies hauptsächlich in den zwei Parkhäusern und in den Parkflächen am Fischmarkt und in der Kanonengasse, die beide parallel zur Flaniermeile zu finden sind, sowie in der Allee.

Die Begegnungszone ist gut integriert ins Stadtbild und von vielen Seiten von den Parkplätzen her mittels eines kurzen Spaziergangs leicht zugänglich. Getrennte Fuss- und Radwege sind offenbar nicht machbar oder unerwünscht, dies bedingt eine rücksichtsvolle Koexistenz zwischen den beiden Verkehrsteilnehmenden.

Auf fast allen besetzten runden Holzbänken, die zu einer Rast einladen, sowie auf der Strasse findet eine animierte Kommunikation statt. Die urbane Atmosphäre mit den vielen Menschen, die unterwegs sind, ist, zusammen mit dem wöchentlichen Genussmarkt und mit einem spielenden Musikanten, gut spürbar und wird nicht von Motorengeräusch gestört.

Die Flaniermeile hat eine einladende, anziehende Wirkung. Sehen und Gesehenwerden sind hier vermutlich nicht unwichtig. In Gesprächen mit Passanten wird die Umwandlung in eine verkehrsfreie Begegnungszone als Bereicherung für das Städtchen empfunden. Und sie macht mit dem Wunsch nach einer ähnlichen Umwandlung anderer Geschäftsstrassen offenbar Lust auf mehr.

Erika Eichenberger:
«Die Umwandlung hat viel in Bewegung gesetzt. Die Rathausstrasse ist nun sehr attraktiv, dafür lohnt es sich, vom Parkplatz 100 Meter zu laufen. Es ist ein richtiges Sehen und Gesehenwerden.»

Sebastian Siegrist:
«Ich habe das Gefühl, dass das ‹Stedtli› im Vergleich zu früher mehr lebt. Die Restaurants sollten die Stühle noch weiter auf die Strasse stellen, damit es eine richtige Flaniermeile ist.»


Sissach: Das Miteinander ist Pflicht

Die Zufahrt zur Begegnungszone aus Richtung Liestal erweist sich in Sissach bei fehlendem Hinweis auf Parkflächen als ein unübersichtliches Verkehrskarussell. Hat man die Einfahrt geschafft, staut sich der Verkehr rasch. Alle Automobilisten haben dasselbe Ziel: einen Parkplatz. Auf der ganzen Verkehrsfläche als Begegnungsraum ist die Situation mit den vielen im Schritttempo fahrenden Autos und den sich durch den Verkehr tastenden Fussgängern sowie Radfahrern komplex. Eng ist hier und da die Durchfahrt, sodass ein unbeschwertes Miteinander zum Russischen Roulette wird.

Fussgängerinnen und Fussgänger haben Vortritt, ihr sicheres Fortbewegen hängt allerdings von der eigenen Aufmerksamkeit und derer der Autofahrer ab. Der vorherrschende dichte Verkehr, die Parkplätze, das Einbiegen aus den Zufahrtsstrassen links und rechts zusammen mit dem Fussverkehr erschweren den Überblick enorm. Zeichengeben und Augenkontakt sorgen bei fehlenden Markierungen dafür, dass Zusammenstösse vermieden werden. Sie machen die Koexistenz zwischen rollendem Blech und spazierenden Menschen an diesem Ostersamstag bei spärlichem Verkehr zur sichtbar gelungenen Pflicht.

Zwei gelbe Schwellen mit auf dem Asphalt gezeichneten Füssen dienen der Drosselung des Fahrtempos und der sicheren Strassenquerung von Fussgängern, sie werden aber immer wieder umfahren. Autos nutzen den schmalen Raum vor den Fassaden, welcher der sicheren Fortbewegung der Fussgänger vorbehalten wäre. Die Bänke am Strassenrand sind spärlich besetzt, was sicher auch der kalten Temperatur geschuldet ist. Sie wirken jedoch auf Auspuffhöhe für eine kurze Rast so nahe am parkenden und fahrenden Strassenverkehr nicht gerade einladend.

Dominik Woodtli:
«Ich finde die Begegnungszone ohne Autos einfach besser. Ich wünsche mir dann auch mehr Sitzplätze, um anderen Menschen begegnen zu können.»

Sibylle Völlmin:
«Die Begegnungszone hat viel Potenzial. Es hat einfach zu viele Autos. Wir müssen uns entscheiden, wo die Prioritäten liegen, und dann Lösungen mit dem Verkehr finden.»

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